II. Retail Talk „Der Handel der Zukunft in der Stadt der Zukunft", 22.09.2022
Handel und Immobilienwirtschaft diskutierten mit der Münchner Lokalbaukommission im PresseClub am Münchner Marienplatz
Als Ort für den zweiten Retail Talk wählte die Günther Rid Stiftung für den bayerischen Einzelhandel - passend zum Thema „Der Handel der Zukunft in der Stadt der Zukunft“ - den PresseClub München im Zentrum der Innenstadt. Mit Blick auf den Marienplatz und das Münchner Rathaus eröffneten Michaela Pichlbauer, die Vorständin der Rid Stiftung und Frau Prof. Dr. Silke Weidner, die Präsidentin des Wissensnetzwerk Stadt und Handel den zweiten Retail Talk und begrüßten gemeinsam die rund 70 Gäste aus dem Einzelhandel, der Stadt- und Landesverwaltung, der Immobilienwirtschaft und der Wissenschaft. Ziel der Veranstaltungsreihe „Retail Talk“ ist es, dem mittelständischen Handel eine Stimme in dem gesellschaftlichen Dialog über die aktuellen Zukunftsthemen zu geben und den erforderlichen Austausch zwischen den relevanten Akteur*innen zu ermöglichen.
Podiumsdiskussion:
Alle Videos zu einzelnen Aspekten der Podiumsdiskussion finden Sie hier.
„Der Rid Stiftung geht es darum, Stadt und Handel dabei zu unterstützen, sich gemeinsam weiterentwickeln zu können, um sich auch zusammen den Herausforderungen der Digitalisierung stellen zu können.“
Zu den gemeinsamen Entwicklungsthemen tauschten sich Caspar-Friedrich Brauckmann, Geschäftsführer der F.S. Kustermann GmbH, Manuel Niederhofer, Bereichsleiter Innovation/Digitalisierung/IT bei der Aachener Grund Vermögen GmbH und Geschäftsführer der AC + X GmbH, Joachim Stumpf, Geschäftsführer der BBE Holding und Cornelius Mager, Leiter der Lokalbaukommission im Referat für Stadtplanung und Bauordnung der LH München aus.
Sabine Hansky, die Programmdirektorin im Munich Urban Colab moderierte auch den zweiten Retail Talk und fokussierte die Frage, welche Maßnahmen es braucht, um bestehende Hürden zu überwinden und um den Handel in der Stadt der Zukunft zusammen gestalten zu können.
Die Geschichte unserer Städte ist eng verbunden mit der Entwicklungsgeschichte des Handels - er stellt seit vielen Jahrzehnten den drittgrößten Wirtschaftssektor in Deutschland dar. Rund 400.000 Beschäftigte arbeiten in über 60.000 Betrieben allein in Bayern. Allerdings sind seit Jahren, nicht zuletzt getrieben durch die Möglichkeiten der Digitalisierung und des Online-Handels, auch vielfältige Veränderungen in dieser mittelständisch strukturierten Branche zu beobachten. In einigen Klein- und Mittelzentren war die Zunahme von Leerständen und mancherorts sogar eine Verödung des Innenstadtlebens die Folge. Spätestens in der Pandemie zeigte sich der enge Zusammenhang von Stadt und Handel in aller Deutlichkeit und es zeigte sich auch, dass es selbst in der Landeshauptstadt Handlungsbedarf gibt.
Daher hat die Rid Stiftung im Pandemiejahr 2021 das Fraunhofer Institut für Integrierte Schaltungen IIS damit beauftragt, aus ihrer wissenschaftlichen Perspektive zu bewerten, was ein echter „großer Wurf“ im Handel ist und woran sich Händler und Händlerinnen orientieren können.
Die Studie „Wie gelingt ein großer Wurf im Handel?“ wurde einleitend am Retail Talk vorgestellt. Das Fraunhofer-Institut IIS hatte über 300 prämierte Best Practices auf ihren tatsächlichen Orientierungswert hin untersucht und exemplarische Wege zu einem ‚großen Wurf‘ aufgezeigt. Diese sechs aktuellen Trends werden in der Studie vorgestellt:
1. Erlebnis-Orientierung
2. Omnichannel
3. Self-Checkout
4. 24-Stunden Öffnungszeiten
5. digital gestützte Costumer Journey
6. Nachhaltigkeit
„Man sollte sich nicht von „großen“ Best Practice Beispielen einschüchtern lassen – viele große Würfe sind organisch gewachsen. Nicht das Was, sondern das Wie macht den Unterschied.“
Die Studie zeigt auf, warum es „den einen großen Wurf“, an dem sich alle gleichermaßen orientieren könnten, nicht gibt. Jedes Einzelhandelskonzept mit seiner individuellen Ausrichtung, seinen unterschiedlichen Warengruppen und seiner spezifischen Kundschaft ist einzeln zu bewerten; Standardlösungen und Technologieeinsatz als Allheilmittel helfen nicht weiter. Überraschend auch das Ergebnis, dass es im Handel keineswegs um Veränderung um jeden Preis geht, sondern vielmehr darum, an ein bestehendes Erfolgskonzept anzuknüpfen und es mit innovativen Mitteln auszubauen.
„Ein wichtiger Schritt ist das aktive Experimentieren mit dem eigenen Geschäftsmodell. Unternehmerischer Mut zum Experiment braucht aber auch geeignete Räume und Ressourcen.“
Experimentieren und Erlebnis-Orientierung sind zwei Ansätze, die Caspar-Friedrich Brauckmann, Geschäftsführer des traditionsreichen Haushaltswarengeschäftes Kustermann, schon seit Jahren in seinem Haus erfolgreich verfolgt - gemäß seinem Motto: „Unser Fachpersonal kümmert sich wie ein Gastgeber um unsere Kunden und Kundinnen “. Wie sieht das Nutzungskonzept bei Kustermann aus? Das sehr breite Warensortiment wird ergänzt durch ein integriertes Café, eine hauseigene Kochschule mit moderner Eventküche, Veranstaltungsräume und eine Bar, die auch extern vermietet werden. Hinzu kommen Dienstleistungen, die über die primäre Ausrichtung des Hauses hinausgehen. Von der personalisierten Gravur über Schlüsseldienste und Tresormontage bis hin zum ‚Private Shopping‘. Aktives Experimentieren und eine zielgruppenspezifische Inszenierung der Verkaufsflächen gehören bei Kustermann zum festen Bestandteil des Geschäftsmodells.
Kustermann ist auch ein klassisches Beispiel für das, was Joachim Stumpf, Geschäftsführer BBE Holding in München, als „vertikalen Nutzungsmix“ von Geschäftsimmobilien bezeichnet. Eine fruchtbare Mischung aus verschiedenen Branchen, die unter einem Dach angesiedelt, aber auf verschiedene Stockwerke verteilt sind. Kaufen, Erleben, Essen und Trinken, die Möglichkeit, in eigens eingerichteten Wohlfühlzonen Kraft zu tanken, Fitnessbereiche, wie es verschiedene Sporthäuser anbieten, Büro und Wohnen in der Innenstadt: das alles seien die Trends der Zeit, führte Stumpf aus und genau hier könne der stationäre Handel gegenüber der Online-Welt punkten. Solche und andere Strategien müssen zum Tragen kommen, um dem Geschäftesterben entgegenzuwirken. Dass die Wiederbelebung und die Stärkung des öffentlichen Raumes das Gebot der Stunde ist, darin ist er sich mit Cornelius Mager, dem Leiter der Lokalbaukommission der LHM einig. Auch in München geht es darum, der Zunahme von Leerständen und den Frequenzrückgängen entgegenzutreten. Stumpf hebt hervor, dass der fortschreitende Online-Handel deutschlandweit in den letzten Jahren zu einer deutlichen Reduktion der Verkaufsflächen geführt hat. Daher geht es aus der Perspektive der Immobilieneigentümer um alternative Nutzungen für diese Handelsflächen. Dies ist aber keineswegs ein Wunschkonzert, sondern die Herausforderung besteht darin, zu erkennen, welche Nutzungen in einer bestimmten Umgebung Sinn machen und wofür es vor Ort ausreichend Nachfrage geben wird. Einig ist man sich im Retail Talk auch darüber, dass nicht alle Immobilieneigentümer – vor allem wenn sie nicht vor Ort leben - Gestaltungsinteressen verfolgen, die über das unmittelbare, eigene geschäftliche Interesse hinausgehen. Umso wichtiger ist es als Stadt Kontaktnetze aufzubauen und auch einen Orientierungsrahmen anzubieten.
Manuel Niederhofer, Bereichsleiter Innovation/Digitalisierung/IT bei der Aachener Grund Vermögen GmbH ist nicht nur Vertreter eines Immobilieneigentümers, der sich sehr aktiv für eine kooperative Weiterentwicklung seiner Handelsimmobilien einsetzt, sondern trägt als Geschäftsführer des Tochterunternehmens AC + X GmbH durch strategische Investitionen auch dazu bei, die Digitalisierung im Handel voranzutreiben. Moderne Mischnutzungskonzepte, die einen Food- oder Non-Food-Handel im EG und im UG vorsehen, Kultur und Kunst im 1. und 2. OG, Gastronutzung und Urban Farming weiter oben anbieten und zu guter Letzt einen Drohnenlandeplatz am Dach beispielsweise haben, scheitern derzeit noch häufig an zermürbenden Genehmigungsprozessen, die nicht auf diese Mischnutzungen ausgelegt sind.
Caspar-Friedrich Brauckmann betont, dass es zukünftig darum gehen müsse, einen mittelständischen, stationären Kaufmann wie ihn „zu entfesseln“. Er möchte die Chance bekommen, mit seinen Konzepten die Genehmigungsbehörden zu überzeugen um dann seine Stadtpolitik und seine Stadtverwaltung als Partner in der Umsetzung erleben zu können.
Leitidee:
Die Leitlinien zum Planen und Bauen in der Münchner Innenstadt finden Sie hier.
Cornelius Mager hebt hervor, dass die Genehmigungsproblematik bei Mischnutzungen in allen vier Hauptabteilungen des Planungsreferats der LHM durchaus angekommen sei und man sich um Flexibilität hierbei bereits bemühe. Generell warb er aber auch um Verständnis für die kollektive Aufgabe des Planungsreferates, den öffentlichen Raum vor der Aneignung durch Einzelne zu schützen und auch für die Aufgabe, das einzigartige Stadtbild Münchens zu erhalten. Vor diesem Hintergrund sei auch die Haltung der Stadt zu verstehen, beispielsweise große, digitale Screens in den Schaufenstern bisher nicht zuzulassen. Die Rolle der Stadt als Partnerin bei der Umsetzung von neuen Ideen findet ihre Grenze bei Einzelinteressen, denn der öffentliche Raum muss als Ganzes im Blick behalten werden und was für einen erlaubt sei, müsse auch allen anderen erlaubt werden.
Da es kein Patentrezept für alle Geschäftsmodelle geben kann und verschiedenste Digitalisierungsansätze im Handel ausprobiert werden müssen, wurde auf dem Podium vorgeschlagen, einen physischen Raum zu schaffen, den man als „Labor“ nutzen könnte – das sei eine Vision, die gut zur Rolle Münchens nicht nur als Landeshauptstadt, sondern auch als Weltstadt passen würde. Da ein(e) mittelständischer Händler*in meist keine Forschungs- und Entwicklungsabteilung hat, könnten dort von Expert*innen exemplarische Lösungen entlang einer digitalisierten Customer Journey für den stationären Handel aufgezeigt und nachvollziehbar gemacht werden. Auch Mischnutzungen könnten realisiert werden und wechselseitige Erfahrungen mit Genehmigungshindernissen könnten in einem Raum gemacht werden, der Entscheidungen auch rücknehmbar macht. Ebenso könnten Händler*innen Erfahrungen sammeln und diese auch weitergeben zu digitalen Anwendungen, die aus gutem Grund nicht in das eigene Geschäftsmodell übernommen werden.
Der Retail Talk „Der Handel der Zukunft in der Stadt der Zukunft“ machte deutlich, wie wichtig es ist, zu einem gemeinsamen Verständnis zu kommen - über die Entwicklungsbedarfe der Stadt, des Handels und der Immobilien in der Stadt. Denn nur zusammen kann es gelingen, den Handel und die Stadt weiterzuentwickeln und einen „großen Wurf“ zu realisieren.
Hier finden Sie die Kurzfassung der Studie ‚Wie gelingt ein großer Wurf im Handel?‘ des Fraunhofer-Instituts IIS im Auftrag der Rid Stiftung.